SPIEGEL: Herr Simon, als Sie vor fast einem Jahrzehnt nach Berlin zogen: Welche Schilder fielen Ihnen als typisch Berlin ins Auge?
Jesse Simon, 1977 geboren, lebt seit 2012 in Berlin. Der Brite ist Autor und Redakteur und lehrt Design und Typografie. Neben seinem Blog über Berliner Typografie dokumentiert er auch die Muster der Stadt .
Jesse Simon: Die Straßenschilder. Man sieht sie dauernd, egal, wohin man geht. Ihre Schriftart ist sehr auffällig, vor allem die im Westen mit dem besonderen ß, der »tz«-Ligatur. Aber natürlich merkt man schnell: Es gibt nicht nur eine Typografie, sondern Dutzende. Deswegen habe ich sie in meinem Buch auch alle nebeneinander gestellt.
SPIEGEL: Entstand daraus Ihr Projekt, die »Typografie Berlins« abzubilden?
Simon: Was letztlich das Projekt inspirierte, waren die Neonschilder. Genauer: jene in Schreibschrift, die damals noch an vielen Fassaden hingen. Vor allem das hier …
Er hält während des Videointerviews sein aufgeschlagenes Buch in die Kamera, zu sehen ist der gelbe Schriftzug »Betten-König«.
SPIEGEL: Was hat es mit dem »Betten-König« auf sich?
Simon: Ich war in Lichtenrade unterwegs, als ich auf einmal daran vorbeikam: Es stach heraus, es erzählt etwas über die Zeit seines Entstehens. Danach nahm ich diese Art Schild plötzlich überall wahr. Natürlich gibt es weltweit Neonschilder, aber diese sind besonders. Sie sind alle leicht verschieden geschwungen. Als hätten die Inhaber der Bäckereien oder Fleischereien mit Hand den Ladennamen aufgeschrieben und an den Schildermacher geschickt: »So hätte ich es gern«. Auch wenn das nicht so war: Ihr Look verbindet die unperfekte Schönheit von Handschrift mit der technologischen Präzision der Neonschilder-Kunst. Sie sind ein Grund dafür, weshalb es so viel Spaß macht, in Berlin zu sein. Allerdings verschwinden sie nach und nach.
SPIEGEL: Weil die Läden schließen?
Simon: Ja und weil die neuen Inhaber die alten Schilder nicht wollen. Sie entfernen sie, streichen alles neu, machen ein Rebranding mit coolen Buchstaben. Als ich anfing, die Schilder zu fotografieren, begann gerade der Niedergang der Neon-Ära. In zehn Jahren werden sicher nur noch wenige solcher Schriftzüge übrig sein in Berlin. An einem Geschäft am Tempelhofer Damm hing bis vor Kurzem das Schild »Wandbeläge«: Der Laden ist noch da, das Schild ist weg. Aber es gibt auch das Gegenteil: In der Karl-Marx-Allee ist an einer Fassade das Wort »Briefmarken« zu sehen – es gehört aber zu einem Weingeschäft. Die, die neu aufmachten, mochten das Schild so sehr, dass sie ihren Laden danach benannten.
Typografie: Der Schilderjäger von Berlin
SPIEGEL: Wie gehen Sie vor? Haken Sie Straßen auf einem Stadtplan ab?
Simon: Nein. Die Stadt ist eine endlose Quelle der Faszination für mich, deswegen laufe ich gern – und bin einfach drauflosgegangen. Anfangs vor allem in Kreuzberg, wo ich wohne, und nebenan in Schöneberg. Und dann fragte ich mich: Was ist in Frohnau, was in Marzahn, was in Lichtenrade? So bin ich dann vielleicht mal eine Woche täglich in Friedenau – denn bei jedem Spaziergang geistern einem jene Straßen durch den Kopf, in die man beim Mal davor nicht abgebogen ist.
SPIEGEL: Inwiefern sind die Schilder im Ostteil der Stadt anders als im Westteil – abgesehen von der Straßenschild-Schriftart?
Simon: Als ich anfing, im Osten zu flanieren, war ich geschockt, dass es so wenige alte Schilder gibt. Viele wollten in den Neunzigerjahren vermutlich alles neu machen und das Alte hinter sich lassen. Was überlebt, ist deswegen sehr besonders: Diese Schilder sind ein Fenster in ein Land, das wirklich nicht mehr existiert.
SPIEGEL: Das erklärt, wieso in Ihrem Buch Schilder aus West-Berlin dominieren, der Schriftzug »Café Sibylle« und das erwähnte »Briefmarken« an der Karl-Marx-Allee gehören zu den Ausnahmen.
Simon: Wie die meisten der wenigen Schilder, die überlebt haben, steht es unter Denkmalschutz. Auch deswegen widmet sich mein nächstes Projekt den Plattenbauten. Ich will zeigen, dass diese Viertel genauso zu Berlin gehören wie die Altbaubezirke. Und wie funktional die einen, wie schön die anderen sind. Nur Schriften gibt es da kaum.
SPIEGEL: Als Designer gehört es zu Ihrem Metier, Schriften wahrzunehmen. Irgendwelche Tipps, wie andere ihren Blick dafür schärfen können?
Simon: Die Stadt ist immer das, was man sieht. Mit dem Buch will ich genau das anderen vermitteln: auf einmal Dinge zu sehen, die man sein ganzes Leben lang übersehen hat – es braucht nur jemanden, der auf sie hinweist.
SPIEGEL: Sie haben auch mal die Stadt in Gelb, Grün, Lila eingeteilt. Welcher Farbcode gilt in Berlin?
Simon: Das typische S-Bahn-Grün erkennt man etwa überall sofort, auch wenn die Logos verschieden sind. Sonst hängen Farben oft damit zusammen, was verkauft wird. Bäckereischilder sind oft gelb, bei Fleischereien und Apotheken rot, bei Blumenläden grün. Das leuchtet nachts besonders schön.
SPIEGEL: Wie lässt sich an Schildern ablesen, in welcher Ära wir uns befinden?
Simon: Etwa am Material. Vor einem Jahr tauchte auf einmal ein Schild an einem Blumenladen auf. Zuvor hing da eins in Comic Sans oder einer anderen Computerschrift mit dem Wort »Blumen«. Aber dann haben sie es abgenommen – und dahinter kam ein wundervolles mit Gold bemaltes Glasschild eines Herrenausstatters zum Vorschein. Was für ein Flashback! Es steht für den Anfang des 20. Jahrhunderts, ebenso wie Neon für die Wirtschaftswunderzeit. Heute benutzen die meisten, was am billigsten ist, etwa farbig blinkende LEDs.
SPIEGEL: Die Entstehungszeit spiegelt sich doch auch in der Sprache, oder? »Wandbeläge« klingt nicht nach 2021.
Simon: Ich kenne zumindest mehrere »Wandbeläge«-Läden in Berlin. Aber in der Sprache spiegelt sich, welche Ware auf welche Weise verkauft wird. Heute gehen die Leute für Schraubendreher und Nägel nicht mehr in »Eisenwaren«- oder »Stahlwaren«-Läden, sondern in den Baumarkt. Sie kaufen nicht mehr bei »Obst und Gemüse« ein, sondern im Supermarkt, vor 30 Jahren gab's kein »Handy Paradies«.
SPIEGEL: Diese Entwicklung ist ja nicht nur in Berlin zu beobachten. Sie sind bestimmt mit Wehmut in der Stadt unterwegs.
Simon: Ich bin inzwischen sicher durch fast jede Straße dieser großartigen Stadt gelaufen. Es passiert nur noch selten, dass ich ein neues Schild entdecke. Immer häufiger hingegen entdecke ich, dass wieder Schilder verschwunden oder kaputt sind. Über einem alten Blumenladen in Kreuzberg hängt in grünen Neonröhren-Buchstaben das Wort »Blumen«. Als ich zum ersten Mal ein Foto machte, war es in einem super Zustand. Nun sind die Röhren halb abgebrochen. Und das Friseurschild nebenan ist ganz weg.
Simon: Ja, es ist leicht, traurig zu werden, weil Dinge verschwinden. Aber umso wichtiger ist es, sie rechtzeitig zu dokumentieren. Das ist die andere, aufregende Seite der Medaille. Vor der Pandemie hatte ich schon geplant, das Projekt auszubauen – und die Schriften in Köln, Hamburg und anderen Städten zu fotografieren. Das muss nun eben warten.
Wie wichtig das ist, zeigen auch Bildunterschriften im Buch: Unter vielen steht »Geschlossen« oder »Entfernt«, das letzte Kapitel zeigt nur Beispiele von Schildern, die nur noch halb zu sehen sind. Ich will festhalten, wie Berlin aussieht, bevor es vorbei ist. Wobei manche sich auch um Instandhaltung kümmern, gerade bei den alten Kinos wie »Babylon« oder »Filmtheater Colosseum«.
SPIEGEL: Dabei gibt es doch einen Trend zu Retro – etwa zu Möbeln aus den Sechzigern – und selbst Geschirr mit Goldrand ist nicht mehr spießig. Wieso gilt dies nicht für Ladenschilder?
Simon: Den Trend gibt es definitiv. Ich vermute, er hat die Ladenschilder einfach noch nicht erreicht. Aber das wird nicht mehr lange dauern. In den vergangenen ein, zwei Jahren sind mir ein paar aufgefallen, die denselben Spirit wie damals haben – wenn auch vielleicht nicht so elegant wie die aus den Sechziger- und Siebzigerjahren. Ein LED-Schild kann man schneller und billiger haben, weil die Schildermacher heute darauf ausgerichtet sind. Im Jahr 2021 ein Neonschild über dem Laden zu haben, ist daher eine bewusste Entscheidung und ein Statement – ganz anders als früher. Für ein Minirevival bräuchte es sicher nur eine Handvoll hipper Restaurants oder Bäckereien. Mein Buch will die alten Schilder daher auch dokumentieren, um vielleicht künftige Ladeninhaber zu inspirieren.
SPIEGEL: Abmontierte Buchstaben und Schilder tauchen manchmal auf Flohmärkten wieder auf – besitzen Sie welche?
SPIEGEL: Ehrlich? Das ist überraschend.
Simon: Na ja, viele sind wirklich sehr groß. Aber wenn ich einen Buchstaben haben könnte, nähme ich das B von »Betten-König«. Es ist sicher so groß wie ich, es würde eine ganze Wand in meiner Wohnung füllen. Aber es gibt das Buchstabenmuseum : Dort ist Platz genug, Schilder so zu präsentieren, dass alle etwas davon haben. Auch wenn mir das »B« gefällt: Mir wäre es lieber, es landete dort – damit es auch weiterhin in der Stadt sichtbar bleibt. Denn diese Schilder bringen überraschend viel Freude ins Leben – auch in meins.
SPIEGEL+-Zugang wird gerade auf einem anderen Gerät genutzt
SPIEGEL+ kann nur auf einem Gerät zur selben Zeit genutzt werden.
Klicken Sie auf den Button, spielen wir den Hinweis auf dem anderen Gerät aus und Sie können SPIEGEL+ weiter nutzen.
Alt-Berliner Wirtshaus am Leuschnerdamm in Kreuzberg: Der Fotograf Jesse Simon ist durch Berlins Straßen gelaufen, immer auf der Suche nach Schildern mit interessanter Typografie. Manchmal verbirgt sich dahinter auch eine interessante Geschichte – einer der Wirte dieser Gaststätte lud 1963 John F. Kennedy auf einen Besuch ein. Die freundliche Absage mit Autogrammkarte gibt es noch.
Filmtheater Colosseum: Viele Neonschilder sind schon aus dem Berliner Straßenbild verschwunden. Einige werden jedoch erhalten und gepflegt – wie das dieses Kinos im Stadtteil Prenzlauer Berg. Im Mai 2020 mussten die Betreiber wegen Corona Insolvenz anmelden.
Straßenschilder von Berlin: Die Straßennamen fielen dem Briten Simon als Erstes als Berlin-typisch auf, als er vor neun Jahren in die Hauptstadt zog.
Verborgener Schatz in Moabit: Über den Schriftzügen auf Glas hing lange ein »Blumen«-Schild. »Martin Grässel Nachf.« war einst ein Geschäft für »Elegante Herrenartikel«.
"Betten-König" in der Bahnhofstraße in Lichtenrade: Jesse Simon will mit seinen Fotografien vermitteln, »auf einmal Dinge zu sehen, die man sein ganzes Leben lang übersehen hat – es braucht nur jemanden, der auf sie hinweist«.
Blume kaputt: Die Neonröhren über dem Laden in Kreuzberg hängen nur noch am dünnen Kabel. »Als ich zum ersten Mal ein Foto machte, war [das Schild] in einem super Zustand. Nun sind die Röhren halb abgebrochen. Und das Friseurschild nebenan ist ganz weg.«
Weinhandlung »Briefmarken« in der Karl-Marx-Allee in Friedrichshain: Manche Ladenbetreiber haben sich so in den Schriftzug über ihrem Eingang verguckt, dass sie ihr Geschäft danach benennen.
»Café Sibylle« in der Karl-Marx-Allee in Friedrichshain: Zu DDR-Zeiten war das Café beliebter Zeitgeist-Treff und wurde später immer wieder geschlossen. Eine Dauerausstellung dokumentiert die Geschichte der Stalin- und späteren Karl-Marx-Allee.
Alt-Berliner Wirtshaus am Leuschnerdamm in Kreuzberg: Der Fotograf Jesse Simon ist durch Berlins Straßen gelaufen, immer auf der Suche nach Schildern mit interessanter Typografie. Manchmal verbirgt sich dahinter auch eine interessante Geschichte – einer der Wirte dieser Gaststätte lud 1963 John F. Kennedy auf einen Besuch ein. Die freundliche Absage mit Autogrammkarte gibt es noch.
Filmtheater Colosseum: Viele Neonschilder sind schon aus dem Berliner Straßenbild verschwunden. Einige werden jedoch erhalten und gepflegt – wie das dieses Kinos im Stadtteil Prenzlauer Berg. Im Mai 2020 mussten die Betreiber wegen Corona Insolvenz anmelden.
Straßenschilder von Berlin: Die Straßennamen fielen dem Briten Simon als Erstes als Berlin-typisch auf, als er vor neun Jahren in die Hauptstadt zog.
Verborgener Schatz in Moabit: Über den Schriftzügen auf Glas hing lange ein »Blumen«-Schild. »Martin Grässel Nachf.« war einst ein Geschäft für »Elegante Herrenartikel«.
"Betten-König" in der Bahnhofstraße in Lichtenrade: Jesse Simon will mit seinen Fotografien vermitteln, »auf einmal Dinge zu sehen, die man sein ganzes Leben lang übersehen hat – es braucht nur jemanden, der auf sie hinweist«.
Blume kaputt: Die Neonröhren über dem Laden in Kreuzberg hängen nur noch am dünnen Kabel. »Als ich zum ersten Mal ein Foto machte, war [das Schild] in einem super Zustand. Nun sind die Röhren halb abgebrochen. Und das Friseurschild nebenan ist ganz weg.«
Weinhandlung »Briefmarken« in der Karl-Marx-Allee in Friedrichshain: Manche Ladenbetreiber haben sich so in den Schriftzug über ihrem Eingang verguckt, dass sie ihr Geschäft danach benennen.
»Café Sibylle« in der Karl-Marx-Allee in Friedrichshain: Zu DDR-Zeiten war das Café beliebter Zeitgeist-Treff und wurde später immer wieder geschlossen. Eine Dauerausstellung dokumentiert die Geschichte der Stalin- und späteren Karl-Marx-Allee.
Melden Sie sich an und diskutieren Sie mit